Ein in der Erwachsenenneurologie bekannter Test, die Effronschen Rechtecke, kann man auch in pädiatrischen Untersuchungen benutzen. Damit überprüft man, ob die Person einen Unterschied in der Länge verschiedener, in der Fläche gleich großer Rechtecke wahrnehmen kann.
![]() Effrons Rechtecke habe ich zu einem Spielzeug umgearbeitet, so dass man während des Spielens beobachten kann, wie das Kind das gleich große Rechteck - aber von anderer Farbe - auf dem Tisch findet, wie es dieses greift und wie es auf das andere Rechteck legt. Dabei werden sowohl die rein visuellen temporalen Funktionen (die Größe) und die parietale Auge-Hand Koordination beobachtet.
![]() Die Variation in den Schädigungen der höheren assoziativen visuellen Funktionen ist groß. Dieser tetraplegische Junge ist ein gutes Beispiel dafür. Er hatte keine Schwierigkeiten, Gesichtsausdrücke zu beschreiben, auch keine Schwierigkeiten Personen oder Gesichtsausdrücke wiederzuerkennen.
![]() Länge der Objekte zu erkennen und parallele Linien zu zeichnen war für ihn auch nicht schwierig, die motorischen Probleme der Hand sieht man hier klar. Diese sind größer als normalerweise, da die Ergonomie nicht gut ist und er nicht seinen eigenen dicken Bleistift gebraucht.
![]() Als er einen Winkel zeichnen sollte, ging es gar nicht. Wenn man eine einfache geometrische Figur, wie ein Winkel, zeichnen soll, geschehen gleichzeitig mehrere Funktionen: Man muss das Bild sehen, das Bild soll gut genug sein, so dass man die Linien wahrnehmen kann. Man muss die Wahrnehmung verarbeiten, so dass man sie in den parietalen und motorischen Planungsfunktionen gebrauchen kann. Dann muss man die motorischen Funktionen steuern und schließlich die motorischen Funktionen und visuelle Feed-back Funktionen während der Aufgabe beherrschen. In dieser Reihe von Aufgaben ist die schwächste Verbindung die wichtigste. Ein Kreuz war auch unmöglich zu zeichnen. Es geht nicht nur darum, ob er es gut zeichnen kann oder nicht, sondern auch darum ob er ein visuelles Konzept von Winkeln oder Kreuzen hat.
![]() Die verschiedenen Elemente der Bildverarbeitung können ungleich schwierig sein und sollten darum als einzelne Funktionen untersucht werden. Bevor kompliziertere Bilder und Aufgaben verwendet werden, sollte genau ermittelt werden, in welchen visuellen und motorischen Bereichen der Junge Schwierigkeiten hat.
![]() Dieser Junge hatte ebenfalls eine verzögerte und unstabile Fixation, die während der Sehschärfemessung zu sehen ist. Er hatte auch keine Akkommodation, die hier retinoskopisch gemessen wird. Beide Schädigungen sind bei körperbehinderten Kindern häufig. Die oculomotorischen Beeinträchtigungen stören ihre Schularbeit oft mehr als die sensorischen Beeinträchtigungen, werden aber leider zu wenig berücksichtigt. Früher zum Beispiel hatte man das Sehvermögen dieses Kindes als normal eingeschätzt.
![]() Eine schwache Akkommodation finden wir fast regelmäßig bei Kleinkindern mit infantilen Spasmen, dieses kann die frühe Interaktion negativ beeinflussen. Wenn keine Akkommodation zu messen ist, kann man mit Lesebrillen das Bild auf der Netzhaut scharf machen und dadurch das Kind aktivieren. Dieses Mädchen schaute zum ersten Mal in ihrem Leben eine Person an und hielt normalen Blickkontakt sogar einige Sekunden lang. Wenn man die Brille für kurze Zeit abnimmt, kann das Kind den Unterschied zwischen einem scharfen und unscharfen Bild erfahren und so möglicherweise noch Akkommodation entwickeln. Doch leider geschieht dies selten.
![]() Die Akkommodation kann die einzige neurologische Beeinträchtigung sein, wie zum Beispiel in dieser Familie, in der drei von vier Kindern ein abweichendes Akkommodation - Konvergenz - Verhalten haben. Im Alter von vier Monaten hatte das Mädchen den Blickkontakt noch nicht entwickelt und wurde wegen ihres ungewöhnlichen Verhaltens als autistisch diagnostisiert. Da ich in meiner Sprechstunde feststellte, dass das Kind nicht akkommodierte, benutzte ich Lesebrillen und wie Sie sehen, war es möglich den Autismus mit einer Lesebrille fast spontan zu heilen. Überlegen Sie aber bitte einmal, was geschehen wäre, wenn niemand das Verhalten des Kindes als ein sinnvolles Verhalten bei fehlender Akkommodation erkannt hätte und die Diagnose Autismus aufrechterhalten worden wäre.
![]() Während unserer funktionalen Einschätzung sollen wir unbedingt an die vielen verschiedenen Phasen des Sehens denken und die Reihenfolge einhalten: Zuerst geht es um die Struktur des primären Bildes in den vorderen Sehbahnen und mögliche Variationen, wenn verschiedene Fixaktionsbereiche benutzt werden. Auch ist es möglich, dass das rechte Auge für Distanzsehen und das linke für das Sehen in der Nähe gebraucht wird, oder umgekehrt.
![]() Dann müssen wir ermitteln, was wir von den hinteren Sehbahnen und von der Anwendung der Informationen in den höheren visuellen Funktionen wissen.
![]() Nach der Zusammenfassung all dieser Informationen können wir unsere Auffassung über die Auswirkung des Sehens auf die Entwicklung des Kindes vorsichtig aussprechen. Denn es geschieht oft, dass die Beobachtungen während der ersten Untersuchungen später nicht bestätigt werden. Wir verstehen die Reaktionen eines unbekannten Babys oder eines jungen Kindes nicht, und darum muss man sehr vorsichtig sein und die Eltern und Therapeut(inn)en um Hilfe und Zusammenarbeit bitten.
![]() Im Alltag eines Kindes spielt das Sehen in den Bereichen Kommunikation, Orientierung und Bewegung, Alltagsfertigkeiten und Sehaufgaben in der Nähe eine große Rolle. Unsere Aussagen über das Sehvermögen des Kindes sollten sich darauf beziehen, was das Kind in diesen vier Bereichen vermutlich sehen kann.
![]() Während des ersten Jahres ist die Entwicklung in mehreren Bereichen sehr stark vom Sehen beeinflusst: Kommunikation, frühe Interaktion, allgemeine motorische Entwicklung und speziell die Auge-Hand - Koordination, räumliche Wahrnehmung und Orientierung im Raum, Objektpermanenz und die inhaltliche Entwicklung der Sprache.
![]() Die frühe Interaktion ist sehr stark visuell, bei allen Kindern, sehend oder sehgeschädigt.
![]() Deshalb ist es wichtig, sehr genau zu analysieren, wie das jeweilige Sehvermögen unter der Perspektive der Kommunikation beschaffen ist. Sehr hilfreich ist es, Kommunikation und Interaktion mit der Videokamera aufzuzeichnen, damit man die einzelnen Sequenzen später in Ruhe und mit vielen Wiederholungen im Team beobachten kann. Trotz zwanzigjähriger Erfahrung stelle ich mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern immer wieder fest, dass unsere ersten Beobachtungen zu häufig von unseren eigenen Ideen beeinflusst sind. Videos sind auch sehr wichtig, wenn man den Eltern zeigen will, dass das Kind sich wirklich über die Kommunikation freut, auch wenn ein normaler Augen- oder Blickkontakt nicht vorhanden ist. Dieses Kind hat Kolobomes in beiden Augen und scheint am Gesicht der Mutter vorbeizuschauen. Dies scheint jedoch nur so, denn dieses Kind sieht nicht im Zentrum, sondern kann seine Mutter nur sehen, wenn es über sie schaut. Es hört auch sehr wenig und darum benutzt man Tadoma: die Mutter hilft dem Kind die Vibration der Stimmbänder und die Bewegungen der Lippen taktil wahrzunehmen.
![]() Wenn ein Kind fast taub ist, sollte man das Sehen für die Kommunikation schon früh besonders gründlich untersuchen. Da kommunikative, mitteilsame visuelle Informationen im Bereich der niedrigen Kontraststufen sind, kann man mit dem Hiding Heidi - Test das Sehen in diesem Bereich messen. Dieses Kind reagierte nur bei 25 Prozent Kontrast auf einer Entfernung von 30 Zentimetern. Wir sehen normalerweise einprozentige Gesichtsbilder auf einer Entfernung von 10 Metern. In einem solchen Fall sollen die Erwachsenen ihre Gesichtszüge mit Make-up deutlicher machen, auch die Männer, so dass das Kind die Gesichtsausdrücke wahrnehmen kann. Wenn ich insgesamt die gegenwärtigen Untersuchungsmethoden einschätzen soll, so kann ich sagen, dass es heute gelingt, viele Sehfunktionen gut zu überprüfen. Leider trifft dies nicht für das Bewegungssehen zu, das ein sehr wichtiger Teil der primären Sehfunktionen ist.
![]() Obwohl unsere Untersuchungsmethodik gut ist, sind unsere Resultate von mehreren Faktoren beeinflusst, die wir nicht kontrollieren können. Abschließend möchte ich nun noch diejenigen Aspekte zusammenfassen, die für eine Untersuchung des Sehverhaltens eines Kindes dringend erforderlich sind. Wenn wir das Sehen für Entwicklung überprüfen, sind die Reaktionen des Kindes sehr stark von der Wachheit des Kindes abhängig. Diese wiederum sind oftmals stark von der Krankheit, der Medikation aber auch sehr häufig von der Lage des Kindes beeinflusst.
![]() Wachheit kann zum Beispiel auch von Abwesenheitsanfällen gestört werden; dies sollte man beobachten und das Verhalten des Kindes nicht als Verlust des Interesses interpretieren . Sie sehen hier einen Jungen, dessen Anfälle noch nicht diagnostiziert waren. Als dieser Abwesenheitsanfall während des Sprechstundenbesuchs auftrat, sagte die Mutter, dass das Kind solche Anfälle schon mehrere Wochen lang gehabt hatte. Hier wäre es wichtig gewesen, dass die Mutter und die Therapeutin ähnliche Anfälle anderer Kinder in Videos gesehen hätten, um das Verhalten dieses Jungen zu verstehen. Dann wüsste man, dass Anfälle auch ohne Krämpfe vorkommen können. Dies zeigt auch, wie erforderlich eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen der Neuropädiatrie ist.
![]() Die klinische Untersuchung kann auch von unserer Art der Kommunikation und der visuellen Sphäre des Kindes beeinflusst sein.
![]() Visuelle Aufmerksamkeit, Motivation und frühere visuelle Erfahrungen sind Faktoren, die wir auch kennen sollten, um die Reaktionen des Kindes einschätzen zu können. Sie ihrerseits sind von der Familiensituation und mehrere Umweltfaktoren abhängig.
![]() Visuelles Gedächtnis spielt natürlich ebenfalls eine entscheidende Rolle beim Wiedererkennen und visuomotorische Funktionen, speziell die Augenmotorik sind für das Sehen unbedingt notwendig. Ohne motorische Funktionen kann man sehen, aber wenig damit tun.
![]() Selbstverständlich spielt auch die Qualität des ursprünglichen Bildes, das im Auge entsteht, eine Rolle, aber nicht eine so große Rolle wie man oft denkt.
![]() Sehen zum Lernen ist von gleichen Faktoren beeinflusst. Auch - in gleicher Weise wie in den medizinischen Untersuchungen, sind wir nicht frei von der Einwirkung unserer eigenen Erfahrungen und Vorurteile. Dazu kommen viele administrative Vorschriften und Regulierungen, die unsere Beschlüsse und unser Denken begrenzen.
![]() Obwohl wir viele Sehbehinderungen überprüfen können, gibt es eine Gruppe Kinder, die neue Untersuchungsmethoden, eine sorgfältige Beobachtung und eine enge Zusammenarbeit zwischen Lehrer(innen), Therapeuten und Medizinern erfordert, die Kinder mit schweren Körperhinderungen und ständigen Spasmen. In diesem Bild scheint das Mädchen die Umgebung ruhig zu betrachten aber wie Sie es im Video sehen, gibt es nur jene Momente von weniger als drei Sekunden, in denen sie offensichtlich gezielt hinschauen kann. Wir haben das Gefühl, dass sie sieht und dass sie auch versteht, was sie sieht, sich sogar erinnern kann. Solche Hypothese kann man erst nach jahrelangen Beobachtungen und auf Grund sehr guter Mitarbeit mit der Familie formulieren. Die Lehrer wissen inzwischen auch, dass während der Spasmen auch Spasmen in dem Ziliarmuskel vorkommen und dadurch die Augen 10 bis 15 Dioptrien kurzsichtig werden, obgleich das Kind keine Refraktionsfehler hat. Im Unterricht sollte man deswegen auditive Materialien wählen und die visuellen Materialien so einsetzen, dass sie ausreichend lange in verschiedenen Entfernungen dem Kind angeboten werden. Nach meinen Reflektionen dürfte es deutlich geworden sein, dass ich meine eigene augenärztliche und andere medizinische Aussagen dann sehr kritisch einschätze, wenn sie die Grundlage für eine Entscheidung über sonderpädagogische Maßnahmen darstellen. In den meisten europäischen Ländern überwiegen die klinisch - medizinischen Befunde, die funktionelle Einschätzung erhält nicht die Position, die sie haben sollte. Die medizinischen Untersuchungen müssen in einem sehr kurzen Zeitraum durchgeführt werden, in einer Umgebung, die selten die Einwirkung zusätzlicher Schädigungen berücksichtigen kann. Wir können vieles, aber unsere Möglichkeiten eine gründliche funktionelle Überprüfung innerhalb der augenärztlichen Sprechstunde zu machen, sind begrenzt und daher auch der Aussagewert unserer Diagnosen für den Alltag. Ich hoffe sehr, dass wir in Zukunft eine engere Zusammenarbeit zwischen Medizinern, Therapeuten und Pädagogen entwickeln können. Nur in der transdisziplinären Kooperation liegt die Chance, sich den speziellen Bedingungen eines einzelnen Kindes anzunähren.
![]() Das Fellowship Programm, das es mir erlaubt, mit Kolleginnen und Kollegen der Sehbehindertenpädagogik zusammen zu arbeiten, ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg. |