Höhere visuelle Funktionen

Die Zahl der Kinder, die verschiedene Verletzungen der hinteren Sehbahnen haben, wächst in allen Ländern. Diese Kinder haben oft Läsionen auch in den vorderen Sehbahnen, z.B. die Frühgeborenen, die sowohl ROP als auch periventrikuläre Leukomalazie haben können.

Visuelles Abtasten ist eine Sehfunktion, die wegen der Zeitbegrenzungen selten als ein Teil der augenärztlichen Untersuchung gemacht wird. Funktionell ist es aber wichtig und soll darum während Spiel- und Therapiesituationen regelmässig beobachtet werden. In gleicher Weise beobachtet man auch visuellen Vergleich zwischen verschiedenen Objekten und Bildern, die so gewählt werden können, dass man gleichzeitig Informationen über Kontrastempfindlichkeit und Farbensehen erhält.

Die höheren Funktionsstörungen liegen im Wiedererkennen der spezifischen visuellen Strukturen, die Agnosien genannt werden, oder in den parietalen Funktionen, die mit der Planung und dem Feed-back der motorischen Funktionen und mit dem egozentrischen Raum zu tun haben. Für diese Funktionen gibt es schon einige pädiatrische Tests. Sie sind auch in den spielerischen Testsituationen der Sonderpädagogen und Therapeuten brauchbar. Es hilft, wenn man das Bild der Sehbahnen erstens als das der retino-genikulo-calcarinen Bahnen, zweitens als das der retino-tectalen Bahnen hält und versucht zu denken, welche der vielen spezifischen visuellen Teilfunktionen das Kind hat und welche nicht.

Bild 6. Die Sehbahnen. Von der Netzhaut geht die Information durch den Sehnerv (SN) und die Sehnervenkreuzung, Chiasma opticum (CH), entweder zum Kniehöcker (KH) und von dort aus zur primären visuellen Gehirnrinde als die retinocalcarine Bahn, oder zum Vierhügel (VH) und Pulvinar (PU), wovon die Information zu mehreren subcortikalen und cortikalen Funktionen überliefert wird. In den Sehbahnen gibt es verschiedene Nervenfasern: Etwa 80% sind dünne parvozellulare (P) (parvo=klein) Fasern, die Information auf hohen Kontraststufen leiten. Da diese Fasern dünn sind, ist die Geschwindigkeit der Transmission relativ niedrig. Etwa 10% der Fasern sind dicke magnozellulare (M) (magno=gross) Fasern, die Bewegungsinformation und schwarz-weisse Information auf niedrigen Kontraststufen leiten. In den dicken Fasern ist die Geschwindigkeit größer als in den dünnen Fasern. In der retinocalcarinen Bahn gibt es überwiegend parvozellulare Fasern, in der tectalen Bahn überwiegend magnozellulare Fasern. Von der primären visuellen Gehirnrinde verteilt sich Information zu fast alle Gehirn- gebieten durch zwei Hauptrichtungen: durch den ventralen Informationsstrom (VS) zum inferiorischen, unteren Teil des Temporallappens und durch den dorsalen Informationsstrom (DS) zu dem Parietallappen.

Die Fähigkeit, Gesichter wiederzuerkennen, beobachtet man in Spiel- und Kommunikationssituationen: auf welcher Distanz erkennt das Kind die Eltern, Geschwister, Freunde und wie gut versteht es die Ausdrücke. Die Ausdrücke lernen die schwer sehbehinderten Kinder ohne Unterstützung nicht. Sie kann man durch Spielen mit Spiegel, Zeichnen und mit dem Heidi Expressions Test lehren. In dem Test gibt es sechs Paar Bilder mit verschiedenen Grundausdrücken. Zu jedem Paar gibt es ein drittes Bild, das anders ähnlich ist aber bei dem das Mädchen eine Haarschleife hat. Wenn das Kind den Gesichtsausdruck nicht sehen kann, gebraucht es die äussere Form des Bildes, nicht den Gesichtsausdruck im Vergleichen, und dadurch findet es die Bilder mit der Schleife gleich.

Es gibt diese Bilder sowohl mit hohem Kontrast, als auch mit 10 prozentigem und 2.5 prozentigem Kontrast. Wenn ein Kind die Ausdrücke auf hohem Kontrast erkennt, auf den niedrigeren Kontrasten aber nicht, so hat das Kind niedrige Kontrastempfindlichkeit, keine Agnosie. Die Beeinträchtigung liegt in solch einem Fall oft in den vorderen Sehbahnen.

Auch wenn ein Kind die Heidi Expressions vergleichen kann, soll man weiter untersuchen, ob das Kind die Begriffe der verschiedenen Gefühle in den Bildern kennt.

Andere Beeinträchtigungen in der primären Bildanalyse, für die wir pädiatrische Tests haben, sind die Unfähigkeiten die Grösse der Objekte oder die Linienrichtungen zu sehen. Im Alter von zwei Jahren können die Kinder schon beurteilen, welches von zwei verschieden langen Objekten, wie den LEA- Rechtecken, das längere ist. Wenn das nicht gelingt, kann man das Kind durch haptische Erfahrung lehren, was man mit "länger" und "kürzer" meint. Kann das Kind den Unterschied verstehen aber den Unterschied doch nicht sieht, ist es möglich diese Unfähigkeit in Spielsituationen weiter zu untersuchen. Man zeigt dem Kind, dass man das Rechteck bei der längeren Achse greifen kann. Wenn das Kind das tut, beobachtet man genau, ob die automatisch eingenommene Entfernung zwischen den Fingern der Länge des Rechtecks entspricht, bevor die Finger das Rechteck berühren. Ist die Entfernung richtig, so hat das Kind visuelle Informationen für die Planung der Hand- und Fingerbewegungen in den parietalen Sehfunktionen, obwohl die Wiedererkennung, die in dem Temporallappen geschieht, nicht gelingt.

In gleicher Weise untersuchen wir mit dem LEA-Briefkasten die Fähigkeit, die Linienrichtungen zu sehen. Man lehrt das Kind durch taktile und propriozeptive Information, was man mit "horizontal", "vertikal" und "schräg" meint. Dann zeigt man den LEA-Briefkasten in verschiedenen Richtungen und das Kind soll eine Karte oder einen Bleistift in die gleiche Richtung stellen. Wenn dies nicht gelingt, ist die nächste Aufgabe, die Karte durch die Öffnung hineinzustecken. Wieder beobachtet man die Bewegungen der Hand. Wenn die Karte in die richtige Richtung gedreht wird, bevor sie die Öffnung trifft, so hat das Kind parietale Sehfunktionen für die Handbewegungen. Wenn ein Kind eine begrenzte Beeinträchtigung in den Sehfunktionen im Temporallappen, kann es schwierig oder unmöglich sein, einfache Ecken zu zeichnen (Video "Severe CP with oculomotor problems" im CD "LH Materials 2001").

Es ist wichtig, dass man diese begrenzten Beeinträchtigungen früh erkennt. Dann geschieht es nicht, dass das Kind hören muss "Du siehts, wenn Du willst". Mit Willen haben diese Schwierigkeiten nichts zu tun.

Kinder mit Gehirnverletzung können mehrere oder nur eine spezifische Funktionsstörung haben. Durch eine ausführliche Anamnese kann man oft die Diagnose stellen. Die gewöhnlichsten Symptome sind in einer Liste hier zusammengestellt:

  • das wichtigste Symptom ist die Fluktuation der Symptome, in einer Situation sieht das Kind, in einer anderen, fast gleichen aber nicht,
  • das Kind hat Angst im Gedränge, auf dem Badestrand und im Schwimmbad, wo Wiedererkennen nicht auf Kleidung sondern auf Gesichtern beruht
  • beginnt spät zu zeichnen und zu malen,
  • kann Buchstaben früh lernen aber lernt nur kurze Wörter zu lesen
  • zieht Konversation mit den Erwachsenen dem Spiel mit anderen Kindern vor, hat Schwierigkeiten in der visuellen Kommunikation
  • lernt früh die Geschwister und Erwachsenen nett um Hilfe zu bitten und vermeidet dadurch schwierige visuelle Aufgaben, was dann in der Schule nicht erlaubt ist und Probleme verursacht,
  • Schwierigkeiten im Raumbegriff äussern sich oft so, dass das Kind Schatten als Niveauunterschiede sieht, sich in bekannten Räumen irrt oder sogar einen Bandvorhang in einer Türöffnung nicht durch- gehen kann
  • lernt oft mit dem Gedächtnis zu kompensieren, und darum
  • kann es wütend werden, wenn Spielzeuge oder Kleider auch ein- wenig anderswohin gestellt worden sind, Objekt/Hintergrundproblem.

Ein gutes Beispiel vom Verlust isolierter Sehfunktionen ist ein Mädchen, das zu Hause ganz normal der Mutter half, mit ihrer Schwester und ihrem Bruder spielte und alles zu sehen schien. Sie kannte auch die Verwandten sogar auf Photos, konnte in dem Farbentest gleiche Farben wählen, hatte eine normale Gittersehschärfe aber keine messbare Optotypensehschärfe während der ersten Sprechstunde. Wenn die 3-dimenzionalen Optotypenformen farbig waren, gab es keine Schwierigkeit, sie in richtigen Plätzen zu stellen ( Video "Jenny's cognitive vision" in "Children with brain damage" im CD LH Materials 2001). Wenn die gleichen Formen schwarzweiss waren, wusste das Mädchen gar nicht, was man mit den Formen tun sollte. Es sah aus, als ob die Formen etwas völlig Fremdes für sie wären, wenn sie schwarzweiss waren. So ein Kind wird oft als geistig behindert diagnostisiert, da es, wie dieses Mädchen, in zwei Schuljahren keinen einzigen Buchstaben und keine Zahlen gelernt hatte. Später, nach intensivem Üben hat sie die vier Formen kennen gelernt und da ist ihre Sehschärfe als 0,16 mit einzelnen Optotypen gemessen worden.

Mehrfachbehinderte Kinder sind jetzt anteilmässig mehr als 60 Prozent der sehbehinderten Kinder. Darum sollten wir in jedem Fall einer Sehbehinderung auch an die Möglichkeit der anderen Behinderungen denken, anderseits sollten wir in einigen bekannten Risikogruppen die Sehbehinderung schon frühzeitig gezielt suchen.

So ist z.B. bei Kindern mit Hörverschlechterung die Prävalenz der Retinopathia pigmentosa so hoch, dass alle tauben Kinder normalhörender Eltern als Kinder mit Usher's Syndrom zu betrachten sind, bis man sicher sein kann, dass das Kind keine retinale Funktionsstörungen hat.

Kinder, die angeborene Taubblindheit durch Röteln, CHARGE- Assoziation oder ähnliche Syndrome haben, sind oft auch geistig behindert, aber nicht alle. Eine sorgfältige Prüfung des Sehvermögens im Hinblick auf die Kommunikation und die motorische Entwicklung ist erforderlich.

Kinder mit motorischen Störungen, speziell die Kinder mit Hemiplegie, haben oft Hirnläsionen, die eine Beeinträchtigung der visuellen Aufmerksamkeit verursachen. In Läsionen der hinteren Sehbahnen bei der periventrikulären Leukomalazie (PVL) sind Agnosien üblich.

Bei geistigbehinderten Kindern sind viele Sehstörungen anzutreffen: hohe Refraktionsfehler, Akkommodationsstörungen, Katarakte und Strabismus, mit oder ohne Amblyopie.

Bei der Rehabilitation der erwachsenen Sehbehinderten haben wir vier Untersuchungsgebiete:

  • Sehen zur Kommunikation,
  • Orientierung & Mobilität,
  • Lebenspraktische Aktivitäten und
  • für anstrengende Nahaufgaben.
Bei der Untersuchung der Kinder und Kleinkinder gibt es noch mehrere Gebiete.

Das Sehen ist ganz zentral in der Entwicklung der meisten Fähigkeiten; darum sollen wir das funktionelle Sehvermögen, das Sehen zum Lernen, untersuchen, und die Fragen stellen, wie viel Sehen vorhanden ist für die Entwicklung

  • der frühen visuellen Kommunikation,
  • der motorischen Funktionen,
  • der räumlichen Begriffe,
  • der Orientierung,
  • der Gleichgewicht,
  • für das Erlernen der sozialen Umgangsformen und
  • für das Bildverständnis,
  • später für "Zufallslernen" und
  • für die Kommunikation in Kindergruppen.

Bei der Untersuchung der sehbehinderten Kinder führen wir eine diagnostische Arbeit durch, und gleichzeitig eine funktionelle Prüfung des Sehens für die Entwicklung der Kommunikation, für ein optimales Aktivitätsniveau und für das Lernen in vielen Gebieten der frühen Entwicklung.

Nach allen diesen Tests sind wir sicher, dass wir eine gründliche Untersuchung durchgeführt haben. Doch sollen wir uns daran erinnern, dass eine der wichtigsten Eigenschaften des Sehens, die Fähigkeit Bewegung zu sehen und Änderungen in der Geschwindigkeit wahrzunehmen, nicht gemessen wurde. Dafür gibt es heute nur experimentelle Testsituationen, die in einigen Jahren vielleicht auch in der Klinik angewandt werden können. Wenn man kein Bewegungssehen hat, sieht man Bilder wie "Pepi" nicht, da die Form nur eine Gruppe von Punkten in Bewegung ist.

Heute ist es möglich, die Funktion der magnozellularen Bahnen mit Flickerempfindlichkeitmessungen zu untersuchen. Diese haben schon geprüft, dass die Empfindlichkeit in einigen Sehbehinderten, die Nystagmus haben, sehr hoch ist und Problem in Bildschirmarbeit verursachen kann.

Bewegungssehen kann fast normal im "blinden" Hemifeld in der homonymen Hemianopie sein, was erklärt, warum diese Personen so gute visuelle Orientierung haben können. Sie kann auch schlecht werden, bevor Sehschärfe oder Kontrastempfindlichkeit sich ändern.

Bei der Untersuchung der schwerstbehinderten Kinder brauchen wir die Hilfe der Therapeuten, um die Körperstellung des Kindes optimal zu erhalten, die störenden Reflexe zu vermeiden und die Kommunikation des Kindes zu verstehen.

Bild 7. Während der Untersuchung haben mehrere verschiedene Faktoren ihren Einfluss auf die Sehleistung des schwer mehrfachbehinderten Kindes.

Unsere diagnostische Arbeit ist eine Voraussetzung der Frühbetreuung. Obwohl nicht komplett, kann die augenärztliche Diagnostik viel Nützliches in die Teamarbeit der Frühbetreuung bringen, und den Kindern helfen, ihr Sehen möglichst früh und erfolgreich zu üben. Um die Macht des Sehens zu demonstrieren, habe ich als die letzte Videoaufnahme (Video "Vision in head control" im CD "LH Materials 2001") diejenige eines Kindes gewählt, das erst im Alter von 6 Monaten zu sehen begann (Bild 8). Zur Zeit der Aufnahme hatte das Kind erst zwei Wochen das Sehen gebraucht. Wegen der Hypotonie hatte es fast keine Kopfhaltung. Doch wenn ein einfaches, interessantes Bild vor dem Kinde war, behielt es den Kopf oben, obgleich es das eigentlich nicht konnte.

 

Bild 8. A. Das Kind hatte Hypotonie und fast keine Kopfhaltung. B. Mit grosser Mühe hält das Kind sein Kopf auf, völlig von dem klaren Bild bezaubert.

Wie eine der Eltern meiner kleinen Patienten gesagt hat, spielen die Augenärzte "eine kleine, aber wichtige Rolle in der Frühbetreuung des Kindes". Ich hoffe, dass alle Augenärzte diese wichtige Rolle in der Zukunft gut spielen.

Hat man Intresse für die höheren visuellen Störungen, empfehle ich das Buch "Visual Brain in Action" von Milner and Goodale, Oxford Science Publications 1995, ISBN 0 19 852136 7.

WGO Report: Management of low vision in children. Report of a WHO Consultation, Bangkok 23-24 July 1992. WHO/PBL/93.27

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