Motorische Funktionen

Die klinische funktionelle Untersuchung beginnt mit der Beobachtung der Augenmotorik. Um etwas anzuschauen, fokusieren wir normalerweise zuerst (an) den Gegenstand, dann folgt die Fixation des Blickes. Während des Anschauens gebrauchen wir sowohl kurze Sakkaden als auch Folgebewegungen und Konvergenz-Divergenz.

Die motorischen Funktionen der sehbehinderten Kinder werden nicht immer gründlich untersucht oder wenigstens nicht gut beschrieben, speziell die Akkommodation und die Sakkaden, die beide wichtige Funktionen sind. Man kann sie am besten in Videoaufnahmen demonstrieren (Bild 1). Wenn die Akkommodation bei den Kleinkindern fehlt, sind die Aktivitätsstufe und die Kommunikation des Kindes oft gestört. Da ist eine frühzeitige Nahkorrektion von grosser Bedeutung.

 

Bild 1. Ein Kind, das wegen infatiles Spasmus und der ACTH sehr müde war und ihr Sehen nicht gebraucht hatte, erhielt 'Lesebrillen' in der Sprechstunde und schaute zum ersten Mal eine Person mit gutem Augenkontakt an. (Video)

In einigen Kindergruppen ist die Akkommodationsstörung zu erwarten. Die wichtigsten Gruppen sind

  • die Down Syndrom Kinder und
  • Kinder mit motorischen Störungen.

Doch bei allen hypotonischen Kleinkindern und Kinder, die Schwierigkeiten mit dem Augenkontakt haben, soll man die Akkommodation nochmals untersuchen und die Einwirkung der Nahkorrektion, der Lesebrillen, beobachten.

Kleinkinder, die nicht rechtzeitig akkommodieren lernen, entwickeln oft intermittente Esotropie zu der Zeit, wenn sie beginnen, Akkommodation zu üben. Schielen und Amblyopie müssen beim mehrfachbehinderten Kindern in gleicher weise, wie in nichtbehinderten Kleinkindern, aber am besten als ein Teil der Physiotherapie trainiert werden (Bild 2).

 

Bild 2. Intermittende Esotropie hat das zentrale Sehen schon gestört. Darum wird das amblyope Auge trainiert, während das andere Auge gedeckt ist. (Vom Video "Vision in Early Therapy" im CD "LH Materials 2001").

Alle mehrfachbehinderte, sehbehinderte Kleinkinder brauchen Physiotherapie um abweichende motorische Entwicklung zu vermeiden. Dies ist in allen Bundesländern nicht anerkannt, was bedauerlich ist, denn es verursacht Verspätungen in der motorischen Entwicklung und ungewünschte motorische Aktivitäten, wenn die normalen motorischen Schemata sich nicht rechtzeitig entwickeln.

In meisten Fällen ist es nicht möglich eine Gehirnverletzung sicher auszuschliessen, wenn das Kind 2-3 Monaten alt ist. In einigen Wochen lernt ein erfahrener Therapeut, ob die motorischen Fertigkeiten normal sind oder nicht. Wenn der Therapeut / die Therapeutin keine Erfahrung in der Physiotherapie der schwer sehbehinderten Säuglinge und Kleinkinder hat, soll im Beginn der Arbeit Unterstützung arrangiert werden.

In den jungen Säuglingen sicht man oft anstatt Sakkaden gleichzeitige Bewegung der Augen und des Kopfes. Auch bei den älteren Kindern sollen die motorischen Funktionen genau untersucht werden. Normales Lesen ist nicht möglich, wenn die Fixation oder die Sakkaden unregelmässig sind.

 

Bild 3. Fixation und ein Versuch zu akkommodieren verursachen aufwärts Bewegung der Augen und des Kopfes in einem Jungen mit zerebraler Parese. (Video)
(Vom Video: Schwartz T Hyvärinen L, Appleby K (1996) Pediatric Vision Testing: Examining normal & visually impaired children, Good-Lite Katalog Nr 280800)

Die motorischen Funktionen klar zu beschreiben, ist der schwierigste und wichtigste Teil der augenärztlichen Untersuchung. In der mehrfachbehinderten Kinder sind sie oft so unregelmässig, dass auch die Orthoptistinen eine gute Grundlage brauchen, um die Funktionen richtig zu beurteilen. Die Analyse der augenmotorischen Funktionen ist oft so schwierig, dass sie eine lange Erfahrung in der Neuro-ophthalmologie fordert. Wenn ein Kind Spastiker ist, reicht nicht einmal Neuro-ophthalmologie, sondern man muss die Augenbewegungen und Akkommodation zusammen mit einem Neurologen oder mit einer erfahrenen Physiotherapeutin untersuchen. Bei diesen Kindern sieht man oft, dass während eines Spasmus der Nackenmuskulatur gleichzeitiger Konvergenz- und Akkommodationsspasmus das Sehen des Kindes stören. Die Umgebung entschwindet im Nebel, weil das Kind 10 bis 15 Dioptrien kurzsichtig wird. Akkommodationsspasmen können auch unabhängig von dem Spasmus der grossen Muskeln auftreten. Am häufigsten sieht man eine gleichzeitige Konvergenzstörung. Da dieser Spasmus oft von einem Versuch, zu fixieren, ausgelöst wird, ist es wichtig, dass man das Kind nie auffordert, etwas anzuschauen, sondern dass man die Aufmerksamkeit des Kindes auf das Objekt oder die Aktivität lenkt, ohne direkte Aufforderung.

Die Einschränkungen der Augenbewegungen sind entweder Störungen in der Muskelfunktionen oder dem Kinde fehlt die höhere Befehlfunktion, den Blick in irgendeine Richtung - oft aufwärts - zu richten. Bei Läsionen der Frontallappe sind die Augen - manchmal auch der Kopf - oft tonisch zur Seite der Läsion gewendet, was auch tonische Deviation genannt wird. Alle abweichenden Augenbewegungen sollten erklärt und die besten Stellungen des Kindes für die augenmotorischen Funktionen beschrieben werden.

Kinder, die keine Augenbewegungen oder keine gezielten Augenbewegungen haben, können oft Kopfbewegungen anstatt Augenbewegungen nutzen. Wenn die Augenbewegungen von den Kopfbewegungen nicht differentiiert, zu trennen, sind, hat das Kind oft spezifische Schwierigkeiten, das Sehen in der Mittellinie zu gebrauchen. Diese Kinder sollen den Unterrichtungsstoff nicht in der Mittellinie gerade vor sich halten, obwohl es "ergonomisch gut" aussieht, sondern den Stoff dort hinstellen dürfen, wo die Anwendung des Sehens leichter ist.

Nystagmus ist bei den sehbehinderten Kindern ganz gewöhnlich. Es ist sensorisch, von der Sehbehinderung verursacht, oder motorisch, ein Symptom erblicher Funktionsstörung der Augenmotorik, meistens mild. Wenn das Kind den Nystagmus mit einer spezifischen Kopfhaltung stabilisiert, soll auch das erklärt werden, so dass man Nystagmus und Kopfhaltung in der Wahl der optischen Hilfsmittel berücksichtigt und auch in dem Kindergarten und in der Schule akzeptiert. Sowohl Prismen und Operationsmöglichkeiten sollen sorgfältig untersucht werden.

Die Augendominanz ist in den sehbehinderten Kinder oft wichtiger zu untersuchen als in den Kindern, die normales Sehen haben. Die sehbehinderten Kinder gebrauchen ziemlich oft ein Auge beim Schauen in die Ferne, und das andere im Nahbereich. Damit hat das Kind verschiedene sensorische Funktionen in diesen zwei Situationen, die darum als Funktion des rechten und die des linken Auges getrennt analysiert werden. Das Kind kann verschiedene Werte in allen sensorischen Funktionen haben.

Zuweilen hat man es schwierig gefunden, festzulegen, ob das Kind als sehbehindert beschrieben werden soll, wenn die Nahsehschärfe des Auges, das in Naharbeiten gebraucht wird, besser ist als die des anderen Auges für Distanzsehen. Sehschädigungsgrenzen in internationalen Berichten beruhen ja auf der Distanzsehschärfe. Diese Berichte und vergleichende Studien macht man für Prevention of Blindness - Tätigkeiten.

Bei der Sehprüfung für Frühbetreuung und Betreuung der Schulkinder brauchen wir NICHT an diese Grenzen zu denken. Die Bangkok - Kundgebung der WGO 1992 (Management of low vision in children) empfiehlt, dass nicht nur Sehschärfe sondern alle andere Sehfunktionen berücksichtigt werden sollen, wenn Bedarf an der Frühbetreuung oder an pädagogischen Massnahmen überlegt wird. Das Entscheidende in der funktionellen Diagnose sind die "Aktivitäten", "Activities", die jetzt anstatt "Disability" gebraucht werden sollen.

Fixation ist eine wichtige sensomotorische Funktion, die mehrmals beobachtet werden soll, auch in den verschiedenen Lagen, Positionen. Sie ist zentral, damit meint man foveal, parafoveal, am Rande der Fovea centralis oder paramacular, am Rande der Makula. Kinder, deren Makula von Netzhautnarben nach temporal gezogen ("dragged") ist, sehen aus, als hätten sie paramakulare Fixation, wenn sie mit der Fovea fixieren. Die Qualität der Fixation variiert, sie ist entweder stabil, flüchtig oder von dem Nystagmus beeinflusst.

Auch die Fixationstelle des sehbehinderten Auges kann variieren. Luminanzänderungen, Grösse oder Kontrast des Objekts können verursachen, dass das Kind eine andere Stelle als das "PRL, preferred retinal locus", bevorzugtes Netzhautgebiet, wählt. Dies kommt öfters bei den Makuladegenerationen, aber auch bei den makularen Narben vor. Dieses Phänomen kann man zuweilen beobachten, wenn das Kind den Fixationsstern des Retinoskops anschaut. Ändert man die Luminanz des Retinoskops gegen Minimum, kann sich die Fixation erheblich ändern.

Die Untersuchungsreihenfolge der motorischen Funktionen und später auch die der Beobachtungen in Therapie- und Schulsituationen, ist etwa die folgende:

Bild 4. Die Untersuchungsreihenfolge der motorischen Funktionen ist davon beeinflusst, ob das Kind beide Augen binokular oder alternierend gebraucht oder nur ein Auge.

IndexNext